Vier Wochen in einer seriösen Ayuredaklinik sind gleichbedeutend mit vier Wochen nahezu zuckerfrei essen. Es fehlt einem an nichts, sobald man sich an das sehr einfache und ausgewogene Essen gewöhnt und die „süßen Versuchungen“ nicht ständig vor Augen hat. Und da in der ayurvedischen Lehre sowieso das Konzept von Süßspeisen, sprich Desserts, komplett fehlt, lebt man so ganz zufrieden dahin und verschwendet keinen Gedanken an Brownies, Apfelstrudel oder Pudding.
Nun leben ja die meisten Inder alles andere als zuckerfrei und das merkt man spätestens, wenn man zu einem Tempelfest eingeladen wird, was in meiner letzten Aufenthaltswoche der Fall war. Frauen in buntglänzenden Saris, Blumenfülle und Lichtermeere aus Öllämpchen, alles sehr stimmungsvoll. Und in jedem der vielen lokalen Tempel gab es Prasad, süße kleine Köstlichkeiten, oft Reispuddings mit Milch, Jaggery (indischer unraffinierter Zucker) und Gewürzen. Kann man als Gast schlecht ablehnen. Doch in Indien süßt man ja nicht ein bisschen, sondern viel. Sehr viel. Schon beim ersten Tempel verspürte ich ein komisches Gefühl im Magen ob des immensen Zuckerschubs, nach dem dritten gab ich auf.
Der eigentliche Hammer kam jedoch am nächsten Tag. Wie in den Wochen zuvor sollte ich in einer Q&A Session Fragen beantworten und fühlte mich mitten in einem heftigen hangover. Die Übersetzungslady in meinem Kopf schien frei zu haben. Die einfachsten Wörter fielen mir nicht mehr ein und das Gefühl eines vernebelten Gehirns ist ein schmeichelhafter Ausdruck für das gefühlte Valium in meinem Kopf. „Brainfog“ nennt sich das in der Functional Medicine Community, wenn man über die Wirkungsweise von süchtig machenden Lebensmitteln spricht. Zucker kann man in diesem Kontext durchaus als Droge bezeichnen und er ist nebenbei der größte Feind unserer Mitochondrien, den Kraftwerken in unseren Zellen. Wenn diese lahmgelegt werden, fühlt sich das an wie eine leere Batterie und diesen Zustand selber so krass zu spüren war ein bisschen ein Schock. Ein heilsamer auf alle Fälle, denn Süßspeisen konsumiere ich derzeit sehr selten und selektiv.
Noch nie war mir so bewußt, wie Lern- und Konzentrationsfähigkeit von Menschen mit hohem Zuckerkonsum kompromittiert sind. Bei länger andauernder Überdosierung fährt der Hormonhaushalt Achterbahn und am Ende der Strecke entstehen Übergewicht, Autoimmun-Krankheiten, Diabetes, Energielosigkeit Stimmungsschwankungen, Demenz und zahlreiche andere Beschwerden. Auf alle Fälle nichts erstrebenswertes.
Eine Website zum Vertiefen: Individualisten.at, die anders.esser
Zum Thema „zuckerfrei“ forsche ich eh seit einiger Zeit und bin dabei auf die Webseite der wunderbaren Eva Schwaighofer gestoßen, die ich jedem empfehle, der sich mit diesem Thema tiefer auseinandersetzen möchte. Unbedingt das eBook herunterladen.
Heute schreibe ich also keine tiefschürfenden Sätze über die Gesundheitsnachteile von Zucker, o.g. website liefert viel Infos und die Medien sind eh voll davon. Und ich habe hier das Thema schon mal ausführlicher beleuchtet. Im Grunde weiß eigentlich jeder Bescheid über die Probleme von Zuckerkonsum und man fragt sich, warum wir trotz allem nicht die Finger dabon lassen können?
Zucker und die Süße des Lebens
Bei komplett zuckerfreier Ernährung (sollte sie nicht medizinisch begründet sein), machen sich bei vielen nach einer kurzen Phase von Wohlbefinden wegen purzelnder Pfunde und einem ordentlichen Energieschub irgendwann Entzugserscheinungen bemerkbar. Mal ganz davon abgesehen, dass es logistisch irrsinnig schwierig ist, außerhalb seiner eigenen Küche zuckerabstinent zu leben.
Mit der Geschmacksrichtung süß ist eine starke mentale Komponente in unserer Psyche verankert, die mit Glücksgefühlen, Zufriedenheit, Liebe, Ruhe, Freude, Heiterkeit, und Gelassenheit verbunden ist. Nicht zufällig spricht man bei vielen süßen, hausgemachten Speisen von „Comfort Food“ oder Nahrung für die Seele.
Doch Süße kann man auch aus anderen Bereichen des Lebens generieren, nicht nur aus Nahrung. Der amerikanische Aktivist Charles Eisenstein, hat in seinem sehr lesenswerten Buch “The Yoga of Eating” diesem Thema ein eigenes Kapitel gewidmet. Das Buch wurde bereits 2002 veröffentlicht und beschreibt perfekt die Zustände unserer Ernährung heute, 15 Jahre später.
Die Begierde nach Zucker entsteht seiner Meinung nach deshalb, weil wir mit der eigentlichen Süße des Lebens nicht mehr in Verbindung stehen. Diese nährt sich aus so grundlegenden Erfahrungen und Emotionen wie Familie, Liebe, Freundschaft, Intimität, Mitgefühl, Gemeinschaft, Freude an der Arbeit oder Entspannung. Zett online hat gerade über eine langangelegte Harvardstudie berichtet, in der Glück und Gesundheit mit befriedigenden, tiefen Beziehungen erklärt wird.
Wir leben (und leiden) jedoch unter Zeitdruck, visueller und auditiver Überstimulation und mit dem Wunsch, besser, schneller, effektiver, begehrter und was auch immer werden zu müssen. Mit diesen Ansprüchen flüchten wir dabei wahlweise in die sog. Selbstoptimierungsfalle und/oder in immer größere, komplett unpersönliche Shoppingmalls. Nährende Beziehungen findet man da allerdings nicht.
Urlaub und Freizeit sind oft so verplant, dass es keinen Platz zu geben scheint für das süße Nichtstun. Einfach mal eine Stunde an einem Platz sitzen und nichts tun, in die Landschaft schauen, vor sich hinträumen, die Geräusche wahrnehmen, es scheint vor allem jüngeren Menschen wie die Idee aus einer anderen Welt zu sein. Wir haben irgendwann das Ausruhen verlernt, eine wichtige Säule für das körperliche Wohlbefinden.
Diese Rastlosigkeit macht uns mental störanfällig, wir fühlen uns machtlos, von der Politk vergessen, von Konzernen betrogen, und bauen immer dickere Mauern oder eben Polster um uns herum. Zuckerkonsum scheint die Leere und Überlastung zu betäuben, die Süße bringt uns ein kurzfristiges Belohnungs- und Glücksgefühl, aber das macht uns natürlich auch absolut süchtig. Das Gefühl von getrennt und nicht im flow sein, verstärkt sich dabei erst recht. Und der Nebel im Kopf verhindert das klare Unterscheiden von echt und falsch, wirklich und irreal.
Ähnlich ist es mit sehr leckerem Essen. Geschmackserlebnisse befriedigen kurzfristig ungemein, doch in Restaurantküchen werden oft Unmengen an Zucker (neben Salz und Gewürzen) verwendet, um den Gast zum zufriedenen Stammgast zu machen. Den Köchen kann man dabei nicht vorwerfen, dass sie keine Ernährungsausbildung absolviert haben.
The sweet way out
Erobern wir die Süße des Lebens zurück, haben die zuckrigen Versuchungen keine Andockstelle mehr. Wir sind selbstverständlich alles andere als machtlos und können für uns sorgen. Z.B. unsere Prioritäten so setzen, dass wir mit uns selber, der Familie, Freunden und Kollegen Zeit und Nähe teilen. Daraus entstehen Wir-Gefühle, die einengende Ich-Bezogenheit auflösen.
Wir können aufhören, uns selber zu kritisieren, mit anderen zu vergleichen und wir können toleranter mit uns und somit auch mit anderen sein. Wir können Fremde, mit denen wir im täglichen Leben interagieren über das professionelle hinweg erfassen, ihre Suche nach Glück und Lebensfreude begreifen, die keine andere ist als unsere eigene. Wir können Freude erleben, wenn wir in der Küche unsere eigenen Mahlzeiten zubereiten, ohne extra Süße, dafür mit meditativer Aufmerksamkeit und Liebe. Mit der Zeit spürt man, dass das Essen nicht mehr superduper-5-sterne sein muss, sondern findet größte Befriedigung und ausreichend Süße in den einfachsten Speisen. Hier beginnt eine große Freiheit in unserer Beziehung zum Essen.
Wenn wir dann noch all das Gerümpel, das Werbung und soziale Medien auf uns niederwerfen, entfernen, kommt unweigerlich die Süße des Lebens zum Vorschein. Ein bisschen Mut braucht das schon, denn es ist ein Leben off-mainstream und es bedarf eines offenen Herzens.
Ein hilfreicher Schritt dazu ist, sich wieder mit der Natur zu verbinden, draußen zu sein, den täglichen und saisonalen Zyklen zu folgen, die seit Jahrtausenden für die inneren Abläufe im Körper und damit das Feintuning unserer Gesundheit verantwortlich waren. Die Fülle, die daraus entsteht, ist eine wesentlich befriedigerende Substanz als alles, was uns die Zuckerindustrie je offerieren kann.
Dieser Beitrag hat 4 Kommentare
Danke für den Beitrag, öffnet einem die Augen und läßt mich manches verstehen.”Brainfog” kennt glaube ich jeder!
Ja, Brainfog kennt jeder, doch wird das Symptom selten mit der Ernährung im Allgemeinen und Zucker im Besonderen in Verbindung gebracht.
Die gute Nachricht: es gibt viel Raum für Optimierungsmöglichkeiten außerhalb der Pharmaindustrie 🙂
Wie wahr – dem kann ich nur voll zustimmen, praktiziere das schon seit längerem und habe nicht nur viele Kilos verloren. Man verändert nicht nur den Körper sondern auch den Geist!
Super interessant,
wo du über Zucker berichtest, muss ich auch den Beitrag https://gehirnstark.com/blog/ist-zucker-gut-fuer-das-gehirn/ erwähnen!
Interessanterweise wird da nämlich berichtet, das Zucker sogar unser Gehirn schrumpfen lassen kann und Demenz und Depression verursachen kann!
Org interessant dieses Thema!
Danke, dass du all die tollen Infos kostenlos hergibst! Bin gleich inspiriert deinen Newsletter zu abbonieren! 🙂
LG