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Was heute so alles als Gift erklärt wird…

kokosöl

Das letzte Jahr hat einige ganz erstaunliche Thesen zu Lebensmitteln hervorgebracht, die einem das Fürchten lehren. Entweder die Thesen oder die Lebensmittel, je nach Betrachtungsweise ;-). Giftig und/oder böse sind seit neuestem Kokosöl wegen der gesättigten Fettsäuren. Käse wegen des hohen Anteils an Fett, Salz, natürlichen Hormonen und der Bakterien, die den typischen Käse-Geruch (!) verursachen. Soja wegen der Phytoöstrogene. Ganz arg erwischt hat es Hülsenfrüchte, Vollkorn-Getreide, bestimmte Obst- und Gemüsesorten und Tomaten, sofern sie Lektine enthalten, die angeblich die Gesundheit ruinieren.

Bitter wird es, wenn die Thesen von Professoren und Ärzten in die Welt gesetzt werden, in deren Fachkompetenz die Menschen großes Vertrauen haben. Wenn sich dann korrekte und spekulative Aussagen abwechseln, hat der Verbraucher keine Chance mehr, sich zu orientieren. In Windeseile verbreitet werden die Thesen dann von Verlagen, Journalisten und Bloggern, die die komplexen Zusammenhänge der Ernährungsmedizin nicht kennen können, es wäre jedesmal ein halbes Studium. Einfangen kann man fake science Berichte meist nicht mehr.

Den größten Aufschrei hat sicherlich die Universität Freiburg mit dem Video von Frau Prof. Dr. Dr. Michels produziert. Knackiges Thema: “Von Kokosöl und anderen Ernährungsirrtümern”. Hauptaussage: “Kokosöl ist pures Gift” oder “Kokosöl ist das schlimmste Lebensmittel, das sie zu sich nehmen können” oder “Gesättigte Fettsäuren (also Kokosöl) führen zum sicheren Herztod”. So geht es dahin mit den steilen Vorlagen und ich erhalte verunsicherte Anfragen, ob das so alles stimmen könnte. Und natürlich Kommentare, die frohlocken: hab ich es doch immer schon gewußt dass….

Als autodidaktischer Foodnerd hat man wenig in die Waagschale zu werfen gegen eine Professorin, die nicht nur in Freiburg sondern zudem in Harvard lehrt. Man schämt sich heimlich für die beiden Unis, vor allem für die aus dem eigenen Geburtsort bis man merkt, dass diese Thesen eigentlich aus Harvard “importiert” wurden. Also fällt mein Mitleid für diese altehrwürdige Institution aus. Die Freiburger freuen sich in der Badischen Zeitung über Klickzahlen wie noch nie. Als ob das ein Beweis für die Qualität des professoralen Rundumschlages wäre. Es dauert immerhin einige Wochen, bis die Universität das Video kommentarlos wieder vom Netz nimmt. Hat man doch nochmal recherchiert?? Who knows.
(Wer Zeit übrig hat, um da nochmals reinzuhören, bitteschön hier entlang.)

Zur Motivfrage für den öligen Rundumschlag fällt mir leider auch nichts ein. Ich konnte keine belastbaren Zahlen finden, aber ich schätze den Verbrauch von Kokosöl hierzulande im einstelligen Prozentbereich im Vergleich zu den gängigen Ölen aus Oliven, Sonnenblumen, Raps, Haselnuss etc. Und auch wenn sich das verdoppeln sollte, was ich für unwahrscheinlich halte, tut das noch immer keinem weh.
Dass es nicht regional ist, was durchaus GEGEN Kokosöl spricht, passt in den Vortrag deshalb nicht, weil ja auch von Kaffee geschwärmt wird. Dagegen ist grüner Matchatee wiederum ganz schlecht, und warum? Weil er importiert (!) werden muss. Kaffeebäume wachsen nämlich rund um Freiburg mit seinem suptropischen Klima. Ach nee, das ist ja der (badische) Wein… Aufgrund solcher Logikketten hab ich den Vortrag irgendwann nicht mehr ernst genommen.

Wie viel oder wenig von diesem Kokosnuss-Bashing blanker Unsinn ist, kann man mit ein paar Klicks herausfinden. Das hätte ein Praktikant der Uni schnell erledigt gehabt und vielleicht der offensichtlich nicht kochaffinen Professorin nebenbei noch erklären können, dass vegetable oil in der Küchenpraxis und im Supermarkt nicht Gemüseöl heißt.

As nature intended

Was uns die Natur liefert, sind in den seltensten Fällen schlechte Nahrungsmittel  (Ausnahmen sind giftige Pflanzen). Was die Menschen in alten Traditionen daraus fabriziert haben, ebenfalls nicht. Kontextual mit Region, Klima, und überhaupt im Einklang mit der Natur, kommen da viele gute Lebensmittel in die Münder. Frisches, Fermentiertes, Eingemachtes, Gepickletes, Gepökeltes, Milchprodukte, etc. pp.

Etwas zur Mitte des letzten Jahrhunderts habe wir angefangen, die Ernährung aus dem Haushalt outzusourcen. An Chemiker, die Lebensmittelindustrie, Roboter, was auch immer. Und haben nun Ärger mit der Gesundheit, weil wir nur noch wenig “echte” Lebensmittel zu uns nehmen, die uns “nähren”. Und die prana-arme Nahrung auch noch zur falschen Zeit in uns reinstopfen. Daraus hat sich eine “Gesundheits”-Industrie entwickelt, die mit allerhand Superfoods und Wundermitteln in Kapseln unser Mikrobiom und was sonst noch so durcheinander geriet im Organismus, zu heilen. Ein Hype jagt den nächsten und die verunsicherten Verbraucher rennen oft wie die Lemminge hinterher. Was ich verstehen kann, weil kaum jemand die Möglichkeit hat, sich in die Tiefe zu informieren.

Ich halte wenige der als Superfood deklarierten Lebensmittel für wertvoller als frische heimische Nahrung. Als Ergänzung und gesundheitliche (z.B. Ingwer, Kurkuma) wie aromatische Bereicherung finde ich sie in kleinen Mengen äußerst hilfreich. Den Hype um Kokosöl halte ich für überzogen, ich denke, es ist ein gleichermaßen wertvolles Lebensmittel wie hochwertiges Olivenöl, Leinöl, Nussöle etc.. Ich verwende es hauptsächlich im Sommer wegen der kühlenden Eigenschaft und in die jüngeren Studien über die Vorteile habe ich durchaus großes Vertrauen. Gift? Das sind pestizid-hormon-antibiotika-vollgepumpte Gemüse, Obst, Fleisch- und Milchprodukte. Aber Kokosöl?
Es geht mir heute allerdings nicht um die Verteidigung eines Öles oder anderer Lebensmittel, die derzeit in Ungnade gefallen sind. Eher um das darüberliegende Bild, das sich hier zeigt.

Der Kontext ist der Schlüssel

Was mir beim Video über das Kokosöl sofort auffiel ist die komplette Mißachtung des Kontextes. Als eingefleischter Südostasien-Fan sehe ich vor meinem geistigen Auge mehr als 350 Mio Asiaten, z.B. in Südindien, Thailand, Bali, Phillipinen etc., zu deren täglicher Nahrung Kokosöl gehört und die eigentlich alle am “sicheren Herztod” sterben müssten. Tun sie aber nicht, nicht mal in Bruchteilen im Vergleich zu den Menschen im Westen, die so gut wie kein Kokosöl zu sich nehmen, dafür raffinierte, chemisch gereinigte und völlig wertfreie Pflanzenöle, Hauptsache “ungesättigte” Fettsäuren, egal wie verpanscht. Somit benötige ich keine wisschenschaftlichen Studien am Menschen, die es laut Prof. Dr. Dr. Michels angeblich nicht gibt (doch es gibt sie und ein Klick zu greenmedinfo.com oder pubmed.com hätte die Wissenslücke geschlossen).
Im Kontext mit der asiatischen Ernährung, die sehr viel Gemüse und Gewürze beinhaltet, scheint Kokosöl also alles andere als Gift zu sein. Gesättigte Fettsäuren (incl. Kokosöl) im Kontext mit Bewegungsarmut, mehrmals täglichem Verzehr von qualitativ minderwertigem Fleisch, Wurst, Käse, Weißmehl, übermässig viel Zucker und Convenient Food könnte vermutlich zum Herztod führen. Über Korrelation und Kausalität müsste die Dame ja Bescheid wissen.

Ähnlich geht es mir bei Sojadebatten mit Kolleginnen, die es nicht verstehen können, dass ich Sojaprodukte nicht in Bausch und Bogen in die Tonne trete, wo doch die Faktenlage klar ist, dass diese ganz schlecht für die Gesundheit seien. Ja richtig, ich nehme Soja nur selten (meist in Form von Tofu) und achte auf Ware, die nicht genmanipuliert ist. Aber ein Lebensmittel, das Menschen in bestimmten Regionen der Welt u.a. 100 Jahre alt werden läßt (Okinawa), kann ich nicht als schlechtes Lebensmittel bezeichnen. Wie die Japaner und Chinesen in Zukunft das Thema Gen-Soja in den Griff kriegen und was es mit den Menschen machen wird, werden wir sehen.

Nächstes Beispiel: Käse. Es gibt ein Buch des (veganen!) Arztes Dr. Neal Barnard, das vehement vor Käse warnt. Einem Lebensmittel, das unsere Vorfahren im Alpenraum als Grundnahrungsmittel kultiviert und in einer eher kleinen Menge (mangels Massentierhaltung) zu sich genommen haben. Als Quelle von Eiweiß, Fett, Vitaminen und Mineralien wie Calcium, Zink, Phosphor, Vitamin A, Vitamin D, B2 (Riboflavin) und B12, Vitamin K2 (vorbeugend gegen Osteoporose), konjugierte Linolsäure CLA (stärkt gegen Krebs und stabilisiert den Stoffwechsel). Das alles gilt für sorgfältig hergestellten Käse aus Rohmilch bzw. hochwertiger Milch.
Käse aus massenproduzierter Milch von Kühen, die mit Hormonen, Antibiotika und nicht artgerechtem Futter vollgepackt sind, in Übermenge verzehrt, sind grenzwertig toxisch und gelten zu Recht als sehr bedenklich für die Gesundheit. Auch hier geht es wieder um den Kontext und die Frage: Wie hat die Natur es vorgesehen? Läßt sich leicht beantworten. Die Kuh steht in der Sonne auf der Weide und frisst Gras. Im Winter Heu. Der Milch-Überschuss nach Fütterung des Kalbes geht in die Produktion anderer Milchprodukte. Die Menge regelt sich dadurch von alleine. Krieg ich das, nehm ich es mit Genuß. Krieg ich es nicht, lass ich es bleiben, was heute meist der Fall ist.
Dr. Barnard beanstandet auch den hohen Salzgehalt in vielen Käsesorten. Damit hat er recht, doch in den meisten Fällen ist der Salz- und Natrium-Spiegel im Käse geringer als bei Fastfood-Ernährung.

Zu guter Letzt: Die bösen Gemüse
Dr Steven Gundry hat vor allem die vegetarische Gemeinde aufgeschreckt mit seinem Buch über die bösen Lektine in gesunden Lebensmitteln. Vor allem die Hülsenfrüchte werden als Übeltäter bezeichnet. Neben Getreiden, best. Obst- und Gemüsesorten und ein paar anderen Lieblingslebensmitteln. Dass die über 100jährigen Menschen in den Blue Zones ein Leben lang täglich Hülsenfrüchte zu sich nehmen und sehr gesund altern: geschenkt. Dass Lektine beim Kochen (Kontext) unschädlich werden, darüber müssen andere aufklären. Die italienischen Mamas und ayurvedischen Weisen z.B. kochen ihre Tomaten. Von Lektinen haben sie vermutlich nie gehört, aber die Vorfahren haben wohl festegestellt, dass die Tomaten gekocht wesentlich leichter verdaut werden bzw. sich vorteilhaft auswirken und so ist, vermute ich mal, die Tradition der Sugo entstanden ;-). Und die isst man hautsächlich während der Tomatensaison, also ein paar Monate im Jahr plus das Eingemachte, das im Winter in kleinen Portionen verbraucht wird. Auch dies ein Beispiel, dass man Qualität, Verarbeitung, Saison, Menge und Tradition als Kontext für die Beurteilung von Lebensmitteln einbeziehen muss.

Was kommt als nächtes?

Wir dürfen gespannt sein, welches Lebensmittel als nächstes aus der pipeline lugt. Leinsamen ist weit oben auf der Skala. Unser liebster Omega-3-Lieferant. Angeblich wegen der Östrogene….
Eine gute Strategie ist, den Hypes in jeder Richtung einen gesunden Menschenverstand entgegen zu setzen. Und Tradition, Regionalität und Kontext im Auge zu behalten. Es zeigt sich zudem, dass man immer wieder seine eigenen Recherchen anstellen muss, wenn man medienstarken Ernährungsmythen begegnet. Oder man ignoriert sie einfach und geniesst. Das Essen, das Leben, die Zeit, die man sich nicht sorgt über seine Ernährung.

Was immer gültig bleiben wird: frische, saisonale Lebensmittel, frisch gekocht, in der richtigen Menge zur richtigen Zeit verzehrt, fördern die Gesundheit und einen klaren Verstand. Damit wird man immun gegen jegliches Angstszenario in Büchern, auf sozialen Medien und in Vorträgen.

Photo by Dana Tentis from Pexels

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Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Claudia Fohrer

    Liebe Daniela,

    ich könnte jetzt ganz viel schreiben, wie gut mir deine Worte, deine Zeilen, deine Ideen gefallen, könnte es würzen und verfeinern und damit das Wasser auf der Zunge zum Kochen bringen, die Augen verdrehen sich und und und ….
    DANKE, ich freue mich, wenn ich dich lese.
    Herzlicher Gruss vom Bodensee
    CLAUDIA

  2. Alex D.

    Ja, da kann man eigentlich nicht viel dazusagen. Außer: Danke für diesen Text. Und jetzt gehe ich in die Küche und genieße ein kleines Stück Schoki.