Genieße das Essen mit Aufmerksamkeit und ausreichend Zeit
Essen ist im Prinzip eine spirituelle Tätigkeit, die uns auf körperlicher und spiritueller Ebene nährt und befriedigt. In unserem Fast-Food Zeitalter hat Essen nichts heiliges mehr, es dient der reinen Erhaltung des Körpers, mit Sicherheit dient es nicht als Seelen-Nahrung.
Oft essen wir Mahlzeiten im Schnelldurchgang (der nächste Termin wartet schon), eifrig debattierend (mit dem Partner, Kollegen, Kindern, Freunden), nebenbei scrollend (das Smartphone mal weglegen scheint kaum noch möglich) oder im Stehen (wenn wir auswärts eine Kleinigkeit zu uns nehmen). Und opfern dabei einen großen Teil des sinnlichen Genusses, aber auch der Signale von Genährtsein und Sättigung. Es ist ein Füllen des Magens ohne große nährstoffrelevanten Effekte.
Neben den grobstofflichen Informationen aus Proteinen, Fetten, Kohlenhydraten, usw., verpassen wir vor allem die gleichermaßen wichtigen subtileren Nährstoffe, die über Aromen und Gerüche transportiert werden. Fehlen diese Signale, fühlt sich der Körper mangelernährt und versucht das über eine erhöhte Essensmenge auszugleichen. Das birgt eine gewisse Ironie: wir überessen uns nicht, weil wir das Essen zu sehr genießen, sondern weil wir es nicht ausreichend genießen und die fehlende subtile Erfahrung über die Menge kompensieren.
Zusätzlich benötigen wir immer stärkere Geschmacksreize, um Essen aromatisch zu empfinden, was die Industrie nur allzu gerne mit einem Übermaß an Salz, Zucker, Fett und Gewürzen bis hin zur Abhängigkeit bedient. Man möge im Selbstversuch eine Tüte Chips öffnen mit dem Vorsatz, nur die Hälfte davon zu essen…
Halber Genuß
Wir denken bei fast jeder Tätigkeit schon an die nächste Aufgabe, den nächsten Termin. Es liegt immer etwas an, Verpflichtungen, Anforderungen, Unterbrechungen usw.. Dieses sprunghafte Verhalten spiegelt sich in unseren Essgewohnheiten wieder. Es ist eine spannende Erfahrung, bei der nächsten Mahlzeit mal zu beobachten, wie wir (und andere) einen Bissen nach dem anderen in den Mund geben, bevor der vorige gekaut und geschluckt ist. Das ist wie Ausatmen, bevor die Luft komplett eingeatmet ist.
Diese Art von Essen verhindert eine befriedigende und vollständige Verdauung. Halb Verdautes sammelt sich im Körper an zu Blockaden, die irgendwann zu Beschwerden und Krankheiten führen. Im Ayurveda nennt man diese Ansammlungen AMA. Hastiges Essen und unvollständiges Kauen ist oft eine Fortsetzung anderer unkompletter und unbefriedigender Erfahrungen im Leben.
Charles Eisenstein beschreibt es in seinem Buch „The Yoga of Eating“ den Effekt der Ablenkung so:
- wenn man beim Essen fernsieht, isst man das TV Programm
- wenn man beim Essen liest , isst man die Worte
- wenn man beim Essen wütend ist , isst man die Wut
- wenn man isst, während man von der Landschaft absorbiert ist, isst man die Landschaft
- wenn man beim Essen viel spricht , isst man die Konversation
Volle Aufmerksamkeit – Voller Genuß
Nahrung entfaltet ihre volle und heilsame Wirkung für Körper und Seele, wenn wir uns Zeit nehmen zum Essen und die Mahlzeit gut kauen. Dabei spielt es keine Rolle, ob man etwas X mal kaut (die Empfehlungen rangieren pauschal von 20-40), weil das für eine Wassermelone nicht das gleiche ist wie für ein Karottencurry . Über die sensorischen Erfahrungen von Geschmacksrichtungen (im Ayurveda sind es 6: süß, sauer, salzig, scharf, bitter und herb) kann der Körper erkennen, welche Nährstoffe er genau aufnimmt, was gut für ihn ist und was schädlich. Welche Verdauungsmechanismen er in Gang zu setzen hat, was er absorbieren möchte und was er lieber wieder aus dem Körper hinausbefördern sollte.
Wenn man das eine Weile übt, schmeckt man viel mehr Aromen heraus, erkennt, ob das Gemüse vom Biobauern kommt oder einer plastiküberdachten Gemüsefabrik in Spanien. Ob das Essen mit Liebe gekocht wurde oder in einer anonymen Großküche. Ob es auf Gas/dem Elektroherd zubereitet oder in der Mikrowelle aufgewärmt wurde. Das mag etwas unrealistisch klingen, aber man denke an Weinexperten, die mit einem kleinen Schluck die Sorte, den Jahrgang, die sonnige oder schattige Lage der Trauben und vieles mehr erkennen können.
Essen wir aufmerksam, benötigen wir zudem viel weniger, um alle unsere Sinne und unseren Hunger zu befriedigen. Was zu besserer Verdauung führt und Gewichtskontrolle unnötig macht. Automatisch wählen wir auch gesündere und aromatischere Lebensmittel aus und kochen einfachere Mahlzeiten.
Essen im Schweigen
Während des Essens zu schweigen, ist jedoch die nährendste Art, eine Mahlzeit zu sich zu nehmen. Der Körper nimmt all die vielen beschriebenen groben und feinen Informationen aus dem Essen auf, die unterschiedlichen Geschmäcker, Texturen, Konsistenzen, Aromen.
Im klösterlichen Leben ist das Schweigen der Normalfall. Im Familienleben so realistisch wie eine Mondfahrt und nicht wirklich empfehlenswert. Egal wie die Lebensumstände sind kann man Kompromisse ausprobieren, die sich auch als familientauglich erweisen könnten, z.B.:
- 10-20 Sekunden Zeit für Stille (oder eine innere Danksagung/Gebet) vor dem Essen
- zumindest eine Mahlzeit des Tages (z.B. das Frühstück) im Schweigen einnehmen
- bei jeder Mahlzeit dem jeweils ersten Bissen jedes Gerichtes volle Aufmerksamkeit widmen
- zumindest die Vorspeise oder Hauptmahlzeit im Schweigen nehmen und ab dem ächsten Gang wieder kommunizieren
Diskutieren, beraten, streiten während des Essens verhindert, dass der Körper die richtigen und wichtigen Signale erhält, die ihn die Nahrung verdauen lassen.
Essen mit Freunden
Essen ist die Bühne sehr vieler sozialer Interaktionen. Es kann jedoch passieren, dass man nach einer Mahlzeit mit angeregter Konversation unbefriedigt aufsteht und sich später weder an die Themen der Konversation so recht erinnern kann noch an die Aromen oder Texturen der Speisen.
In vielen Traditionen auf der Welt werden Mahlzeiten sehr ausgedehnt mit langen Pausen zwischen den Gängen zelebriert. Hier sind die Gespräche und das Essen nicht eingepresst in eine kurze Zeitspanne, die nur eine oberflächliche Erfahrung sowohl des Essens als auch der Konversation ermöglichen würde.
Tipps für aufmerksames Essen:
- erlaube dir ausreichend Zeit für die Mahlzeit
- wechsle an einen richtigen Esstisch (Michael Pollan: Ein Schreibtisch ist kein Esstisch)
- sind die Gedanken noch sehr bei der Arbeit oder anderweitig zerstreut, nimm ein paar tiefe Atemzüge vor dem Essen, um in einen entspannten rest-and-digest-Modus zu kommen
- nimm das Essen langsam ein
- das Essen wird am genussvollsten erfahren, wenn du es schweigend zu dir nimmst
Nachtrag am 15.2.2018
Nach der Mahlzeit wurden die Probanden zu einem „Geschmackstest” mit verschiedenen Keksen, Crackern und M&Ms eingeladen. Das Ergebnis war interessant. Die Gruppe, die die Pasta als „Snack” serviert bekam, hat bis zu 50% mehr gegessen als die Gruppe mit der Pasta als „Mahlzeit”, sowohl bei der Pasta als auch beim anschließenden Geschmackstest, bei dem die Snack-Gruppe auch deutlich mehr Süßigkeiten verzehrt hat. Das heißt, wenn eine Mahlzeit als „Snack” vermarktet wird, führt das zu vermehrtem Konsum und Überessen. Die Erklärung der Wissenschaftler: ein Snack wird schneller gegessen, wir sind leichter ablenkbar und infolge dessen sind wir uns nicht über die Menge und die Art der konsumierten Mahlzeit bewußt. Ein Snack führt also unbewußt zum Überessen. Wenn wir uns zum Essen hinsetzen, essen wir aufmerksamer und bewußter und haben ein klares Bild über die verzehrte Menge.